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josfritz Buchhandlung Freiburg
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John Lanchester

cover

Aus dem Englischen von Dorothee Merkel.
Klett-Cotta Verlag , gebunden , 348 Seiten

 24.- €

 978-3-608-96391-5

 2. Auflage 2019

Die Mauer

Im echten Leben sind Mauern ja wieder ganz in Mode, in der Literatur begegnen sie einem eigentlich seltener. Besonders eindrücklich erinnere ich mich, wie ich im jungen Nachwendedeutschland Der Schlund von der Altmeisterin des Teenagegrusels, Gudrun Pausewang, gelesen habe. Darin beschließt eine bürgerlich daherkommende neurechte Partei, eine Mauer rund um Deutschland zu bauen. Schafft Arbeitsplätze und hält Neuankömmlinge ab. Der neue Faschismus lässt nicht lange auf sich warten.

John Lanchesters Roman Die Mauer beginnt mit einer ähnlichen Prämisse, ist aber gleichzeitig unterhaltsamer, dunkler und raffinierter: Das Großbritannien einer unbestimmten, aber nicht allzu fernen Zukunft hat sich eingemauert. Wie die Mauer dort hinkam, ist erst einmal egal. Die Babyboomer haben Den Wandel zwar noch mitbekommen, können aber nicht mehr viel beitragen außer einem schuldbewussten „Wir haben's vergeigt“-Gesicht.
Die junge Generation darf es ausbaden: Joseph Kavanaugh ist einer von ihnen. Er verrichtet seinen Pflichtdienst an der Mauer, 12 Stunden am Tag bewacht er „sein“ Stück von ihr. Tagaus, tagein, zwei Jahre lang. Dabei kommt Pflichterfüllung vor Heldentum, Fragen sind nicht erwünscht. Eigentlich, so überlegt sich Kavanaugh, ist die Mauer eine Geschichte. Oder eher ein Gedicht. Poesie, in Beton gegossen: Beton Beton Beton Beton Beton. Wenn man der Kälte und den Elementen ausgesetzt ist, schnurrt alles zusammen: Betonwasserwindhimmel. Kein Anfang, kein Ende, zwischendrin ganz schön viel Beton.
Bei 10.000 Kilometern Ex-Küstenlinie ist da ziemlich viel Raum für Langeweile im Dienst. Aber man muss auf der Hut sein: die Anderen könnten jederzeit angreifen. Mit nichts ausgestattet als der Macht der schieren Verzweiflung, versuchen sie immer wieder, ins Land zu komme, obwohl das ein sinnloses Unterfangen ist, denn ohne biometrischen Ausweischip haben sie die Wahl zwischen Erschießung, Rücksendung per Schlauchboot oder einem Leben als Dienstlinge, also Haussklaven. Verteidiger, denen ein Anderer an der Mauer entwischt, ergeht es wenig besser, denn sie werden aufs Meer hinausgebracht. (Gut, dass die Anderen noch nicht herausgefunden haben, dass sie einfach während einer Teepause angreifen könnten, überlegt Kavanaugh. Dann hätten die Briten nämlich überhaupt keine Chance.) Aber auch so ist die Ruhe trügerisch...

Besonders erstaunlich ist an Lanchesters Roman, welch geringe Überzeichnungen unserer Realität nötig gewesen sind, um in einer hoffnungslosen Zukunft zu landen. Zukunft? Es bleibt das beklemmende Gefühl, dass die Mauer längst in unseren Köpfen angekommen ist.
Trotzdem kommt auch das Lesevergnügen nicht zu kurz: Lanchesters Humor ist ebenso fein wie trocken, man fiebert – eigentlich ungewollt – bei Actionszenen mit. Man spürt förmlich den kalten Wind an der Mauer und die aufkommende Seekrankheit auf dem offenen Meer. Und selten habe ich zuvor feststellen müssen, dass ich selbst dann nicht schwindelfrei bin, wenn es nur im Roman, und nicht in der Realität, in die Höhe geht.

Englische Originalausgabe: The Wall

Georg Zipp lebt in Freiburg, forscht zur Karibik, übersetzt Texte und bewirbt Filme.