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josfritz Buchhandlung Freiburg
josfritz Buchhandlung Freiburg

George Eliot

cover

Aus dem Englischen von Melanie Walz.
Rowohlt , gebunden , 1264 Seiten

 45.- €

 978-3-498-04537-1

 19.11.2019

Middlemarch

Zum 45. Geburtstag, liebe jos fritz Buchhandlung, die allerbesten Glückwünsche, und dazu ein Buchtipp, der auch eine Art Geburtstagsgeschenk ist: Zum 200. Geburtstag von George Eliot hat der Rowohlt Verlag im letzten November eine Neuübersetzung von Middlemarch herausgegeben, dem 1874 erschienenen Hauptwerk der Autorin.

Allen, die noch zögern, den Roman endlich zu lesen, sei versichert: Die anfänglich größte Hürde – seine 1300 Seiten – erweist sich als das größte Geschenk! Mehr Seiten heißt nämlich: mehr Zeit mit den wunderbaren Charakteren in der fiktiven englischen Provinz zu verbringen, von deren Lebensläufen, Liebeswirren und leidvollem Scheitern Eliot erzählt. Im Zentrum stehen die zauberhafte Dorothea Brooke, eine junge Frau, die mehr vom Leben will als in die ihr zugewiesenen Rollenbilder passt und die leidenschaftlich nach Bildung und Erkenntnis strebt, und der nicht minder tatendurstige Tertius Lydgate, ein ehrgeiziger Arzt, der in der Ehe mit der Unternehmerstochter Rosamund eine ebenso große Herausforderung erlebt wie mit dem Aufbau eines neuen Spitals für Fieberkrankheiten.

Es ist alles dabei: junges Liebesglück und gebrochene Herzen, Ehekrisen und Erpressung, Glücksspiel und Gottesdienst, Spekulation am Pferdemarkt und Kunstgenuss in Rom, innige Freundschaft und politische Intrigen, aber auch philosophische und medizinische Exkurse, ökonomische und soziale Visionen. Ein Gesellschaftsporträt in a nutshell. Und ein unterhaltsames dazu, das es dramaturgisch locker mit jeder Netflix-Serie aufnehmen kann. Dazu hinreißend klug beobachtet und von einer feinen Ironie getragen, die nie ins Zynische kippt, sondern mitfühlend und großherzig auf die Fehlbarkeiten und Unzulänglichkeiten der Figuren blickt. Scharfsinnige Spitzen hebt sich die Autorin für Kommentare zur sozialen Stellung der Geschlechter, gesellschaftlichen Erwartungen und Konventionen auf: „Frauen dürfen vor der Heirat ihre Wünsche äußern, damit sie danach Geschmack an der Unterwerfung finden", schreibt sie provozierend. George Eliot war die meist gelesene und bestbezahlte Autorin Englands ihrer Zeit – aber nur, weil sie unter männlichem Pseudonym schrieb. Wie aktuell ihre Analysen sind, zeigt sich nicht zuletzt dank der brillanten Neuübersetzung von Melanie Walz, die den viktorianischen Sprachduktus einfallsreich und elegant ins Deutsche übertragen hat. So weht diese Prosa trotz ihres Alters wie ein frischer Wind durch die Gegenwartsliteratur.

Das einzige Problem: Nach so viel Zeit in Middlemarch fällt der Abschied naturgemäß schwer und man fühlt sich ein paar Tage wie nach einer Klassenfahrt: einsam, verlassen, melancholisch. Gegen die Leere hilft zum Beispiel Little Women, der Roman von Louisa May Alcott aus der gleichen Zeit (gerade mit Eliot'schem Esprit neu verfilmt von Greta Gerwig). Über Jane Austen und Virginia Woolf kann man sich anschließend wieder Richtung Gegenwart lesen und hier mit Regina Porters Die Reisenden oder Sally Rooneys Gespräch mit Freunden die nächsten liebenswerten Reisegesellschaften entdecken.

Und wo könnte man das besser als bei jos fritz? Kennengelernt habe ich die Buchhandlung direkt in meiner ersten Arbeitswoche im Literaturbüro, damals noch im Alten Wiehrebahnhof. Dort in der Galerie sprach am 5. Mai 2016, also genau vor vier Jahren, Susanne mit der Autorin Antje Ravic Strubel. Meine zweite Veranstaltung in Freiburg – auf die eine ganze Reihe unvergessener gemeinsamer Abende folgte, im Literaturhaus, in der Buchhandlung und andernorts. Am schönsten ist für mich immer das Literaturgespräch: vier Tage am Stück mit Heidi, Susanne und allen anderen wunderbaren jos fritzler*innen an der langen Büchertafel – der Höhepunkt des Literaturhausjahres!

Katharina Knüppel arbeitet im Literaturhaus Freiburg,

 das nach dem Lockdown für einen Monat als „Museum der Langsamkeit" geöffnet ist. Mit einem vielfältigen Programm und dem 34. Freiburger Literaturgespräch kann das Haus im Herbst hoffentlich anknüpfen. Bis dahin empfiehlt sich das Museum auch als Sommerlektüre: Der begleitende Katalog ist bei jos fritz erhältlich.