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josfritz Buchhandlung Freiburg
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Christoph Biermann

cover

Kiepenheuer & Witsch Verlag , kartoniert , 416 Seiten

 18.- €

 978-3-462-00111-2

 08.10.2020

Wir werden ewig leben

Mein unglaubliches Jahr mit dem 1. FC Union Berlin

Manchmal mache ich mir gegen Ende eines guten Buches Sorgen: Wie die ersten Abende danach sein werden, ohne all die Figuren, die mir nahegekommen sind. Mit einem Fußballbuch war es mir noch nie so ergangen. Christoph Biermann hat da mit „Wir werden ewig leben" ein Novum geschafft. Aber nicht nur wegen dieser persönlichen Erfahrung. Und auch nicht, weil man im Verlauf der 400-Seiten den Eindruck gewinnt, dass der Wälzer seinen Untertitel „Mein unglaubliches Jahr mit dem 1. FC Union Berlin" einlöst. Der eigentliche Clou ist eher das Gegenteil: Wie glaubhaft diese Entzauberung der vermeintlichen Glamourwelt Profifußball daherkommt. Und wie nahe – im doppelten Sinne des Wortes – einem ihre Protagonisten dabei rücken, selbst wenn man kein Union-Fan ist.

Diese Protagonisten sind: Spieler, Trainer, Funktionäre, Mitarbeiter und Fans von Union. Für weniger Kundige: Der Klub aus Berlin-Köpenick war zu DDR-Zeiten eine Art Antipode des weithin ungeliebten Lokalrivalen BFC mit Stasi-Chef Erich Mielke als Ehrenvorsitzendem. Auch der Fährte dieser historischen Dimension, aus der Union als derzeitig einziger Bundesligist aus dem ehemaligen Osten und seine Fans bis heute wesentliche Bestandteile ihres kollektiven Selbstverständnisses generieren, spürt Biermann nach.

Wichtiger ist aber das andere, dass der Fußballjournalist Biermann Union über die ganze vergangene Saison hinweg (auch) überall dort begleiten durfte, wo der Zugang für die Öffentlichkeit sonst tabuisiert bleibt: in die Trainerkabine und in Teambesprechungen, im Bus und Mannschaftshotel – und obwohl er das bis zum Abwinken getan hat, trotzdem nicht in den handelsüblichen Voyeurismus der Branche verfällt.

Auch dass und wie der Aufsteiger aus Köpenick den von vielen nicht für möglich gehaltenen Klassenverbleib in der Bundesliga meisterte, bleibt nur der äußere Handlungsstrang. Das Zentrum sind die Menschen, die das zusammen bewerkstelligen. Und es ist ihre Welt, die, wenn man so genau wie Biermann hinschaut, oft eine ganz schön einsame und traurige ist. Dass der Autor sie manchmal mythologisiert, indem er etwa die „Wir-saufen-bis-zum-Tod"-von Teilen der Anhänger anekdotisch verniedlicht, lässt sich da leicht verschmerzen. Zumal es mehr als nur aufgewogen wird mit interessanten Ideen – teilweise – anrührenden Geschichten und tiefen Einsichten.

Eines der schönsten Beispiele ist für mich ein Satz, mit dem der Union-Angreifer Michael Parensen in seinem elften Jahr als Spieler der Köpenicker das Zusammenspiel zwischen Fußball und seiner Rezeption durch die Fans beschreibt „Die Menschen sind Sinnsucher. Man arbeitet für etwas, das nachwirkt, und bei mir sehen sie einen, der sich unserem Klub verschrieben hat."

Christoph Biermann hat es auch mit seinem Buch, das nach einer Zeile aus der vor 20 Jahren von Nina Hagen getexteten Union-Hymne betitelt ist, geschafft bei mir nachzuwirken. Was doppelt schwer ist, weil ich einem anderen Klub mindestens so sehr – und wie viele Fans leider oft ähnlich verbohrt – so verfallen bin, wie es die Unioner den Eisernen sind. Aber nie mehr sehe ich derzeit in Übertragungen Union-Verteidiger Christopher Trimmel eine Ecke oder einen Freistoß mit scharfem Schnitt ins Zentrum hauen, ohne daran zu denken, wie er letzte Saison am Vorabend eines Heimspiels, nach dem Biermann ihn tags darauf vom Parkplatz wegfahren sieht, einer todkranken Freundin auf ihren Wunsch ihr Lieblingstier, einen kleinen Elefanten, tätowierte. „Dann", schreibt Biermann, „lief er elf Kilometer durch dieses Drecksspiel, schoss die Ecke, die zum Führungstreffer führte, und nun fuhr er nach Hause."

Uli Fuchs arbeitet unter anderem als Texter und Autor – und in unterschiedlicher Weise auch für den SC Freiburg.