Loading...
josfritz Buchhandlung Freiburg
josfritz Buchhandlung Freiburg

Deniz Ohde

cover

Suhrkamp Verlag , gebunden , 284 Seiten

 22.- €

 978-3-518-42963-1

 17.08.2020

Streulicht

Streulicht entsteht dort, wo die Lichtstrahlen auf einen Widerstand stoßen: Das kann Nebel, Smog, Luftverschmutzung sein. Die Ich-Erzählerin von Deniz Ohdes Roman Streulicht lebt in einer Gegend, wo Streulicht an der Tagesordnung ist: buchstäblich im Dunstkreis des Industrieparks Frankfurt-Höchst, einer Ansammlung von Chemieunternehmen, zu deren Ausfällprodukten Kochsalz und Industrieschnee gehören. Hier aufzuwachsen - als Tochter eines Arbeiters, der Industriebleche in Aluminiumlauge taucht und einer Türkin, die ihr Bergdorf in Anatolien auf Nimmerwiedersehen verlassen hat, weil ihre Mutter sie nach dem frühen Unfalltod des Vaters misshandelt hat, ist keine einfache Aufgabe. Behütete Kindheiten gibt es nebenan, im Mittelschichtsmilieu, wo Sophia, die beste Freundin der Ich-Erzählerin, mit gesunden Naschtellern versorgt wird, während sie - dosiert - den öffentlich-rechtlichen Kinderkanal Kika schaut. Und wo Pikka, Sophias Freund seit Kindertagen und künftiger Ehemann, sich darauf vorbereitet, das Unternehmen seines Vaters zu übernehmen.

Die Ich-Erzählerin, die einen - in der Öffentlichkeit nicht verwendbaren - „Geheimnamen“ trägt, erfährt Streit und Gewalt zwischen den Eltern. Der Vater raucht und trinkt, muss immer wieder von der Mutter aus Kneipen abgeholt werden. Einmal verlässt die Mutter die Familie, nimmt sich eine eigene Wohnung - doch ihr Emanzipationsversuch scheitert. Das wird der Tochter nicht passieren. Deniz Ohde reanimiert und transformiert in ihrem mit mehreren Preisen - unter anderem dem Jürgen-Ponto-Preis - ausgezeichneten Debüt das Genre des Bildungsromans: Bildung - nicht der Persönlichkeit, sondern ganz handfest und konkret Schulbildung bedeutet für ihre Protagonistin die Rettung vor - subtiler - sozialer und rassistischer Ausgrenzung. Doch Streulicht ist mehr als eine Milieustudie, mehr als eine minutiöse Erkundung sozialer Unterschiede im Deutschland der End-Neunziger und Anfang Zweitausender-Jahre. Der schonungslose Blick, mit dem die Autorin die Verhältnisse in einer Familie schildert, die zu den
Verlierern der Wohlstandsgesellschaft zählt, ist zugleich ein atmosphärischer; die Genauigkeit, mit der soziale Situationen erfasst werden, verdankt sich nicht einem realistischen, sondern einem poetisch verdichteten Erzählton. Das ist vielleicht die größte Kunst dieses erstaunlich souveränen Erstlingswerks: Bei der Lektüre paaren sich Erkenntnisgewinn und
ästhetische Erfahrung, Wahrhaftigkeit und Schönheit der Sprache.

Streulicht ist ein sehr ungewöhnliches Buch, eines, das mit dem ersten Ton, dem ersten Satz schon herausragt aus allen literarischen Erstlingswerken dieses Jahres. Hier hat eine 32-jährige Schriftstellerin ihre Visitenkarte abgegeben. Nachhaltig.

Bettina Schulte, Badische Zeitung