Igiaba Scego
Kassandra in Mogadischu
Meine Tochter legte 2020 ihre Abiturprüfung ab. Unter den Leistungskursen, über die sie die schriftliche Prüfung ablegen sollte, war natürlich Italienisch. Ein paar Monate vor der Prüfung fragte ich sie: „Habt ihr bestimmte Autor*innen, die ihr lesen müsst?“ „Ja, natürlich! Leonardo Sciascia und Igiaba Scego.“ „Wahnsinn! Und ist das die Wahl deiner Lehrerin?„ Nein, vom Kultusministerium in Stuttgart!“
Als ich drei Jahre später Kassandra in Mogadischu las, musste ich an diesen amüsanten und aufschlussreichen Dialog denken, denn beim Lesen des Buches wurde mir klar, wie recht das Kultusministerium hatte.
Kassandra in Mogadischu ist ein Memoir in Form eines Interviews mit der hooyo (Mutter) und eines Briefes an die in Kanada lebende awowe (Enkelin) der Autorin, das in zwei Sprachen (Italienisch und Somali) geschrieben ist und mehrere Jahrzehnte auf zwei Kontinenten umspannt. In diesem eindringlichen und bewegenden Buch beschreibt Scego die Geschichte Somalias und den Exodus der Somalier anhand der Ereignisse in ihrer Familie und der intimen und körperlichen Reaktionen der Menschen, angefangen bei ihren eigenen. Mit großem Mut erzählt die Autorin von ihrer Bulimie als Teenager, allein mit ihrem Vater in Rom Anfang der 1990er Jahre, während ihre Mutter in Mogadischu war, wo der Krieg tobte, oder von ihrer Beziehung zum Grünen Star in ihren Augen. Und sie erzählt davon, wie Wörter (oder deren Fehlen in anderen Sprachen) unsere Denkweise und unsere Lebensweise beeinflussen. Das Wort jirro zum Beispiel kommt 135 Mal im Buch vor (ich habe es in einem Artikel gelesen) und bedeutet genau genommen Krankheit, aber auch Schmerz, Wunden, gebrochenes Herz.
Dennoch hinterlässt das Buch, das hart und bisweilen brutal ist, eine Spur der Hoffnung. In der abschließenden Danksagung erinnert Scego daran, dass „auch wenn es seltener erwähnt wird als jirro, das Schlüsselwort dieses Buches cura (Fürsorge) ist; Fürsorge, deren grundlegendes Werkzeug die italienische Sprache ist, die „sie aufgenommen hat, sie wachsen ließ und ihrer Verzweiflung und ihren Freuden eine Stimme gab".
Es ist ein Buch, das in Italien gefehlt hat – jenem Italien, das seinen eigenen Kolonialismus und die Schrecken, die den beherrschten Völkern zugefügt wurden, immer ignoriert hat – und es ist gut, dass es auch auf Deutsch erschienen ist.
Andrea Burzacchini
Verena von Koskull
S.Fischer Verlag , gebunden , 416 Seiten
26.- €
978-3-10-397619-9
25.09.2024
Kassandra in Mogadischu
Meine Tochter legte 2020 ihre Abiturprüfung ab. Unter den Leistungskursen, über die sie die schriftliche Prüfung ablegen sollte, war natürlich Italienisch. Ein paar Monate vor der Prüfung fragte ich sie: „Habt ihr bestimmte Autor*innen, die ihr lesen müsst?“ „Ja, natürlich! Leonardo Sciascia und Igiaba Scego.“ „Wahnsinn! Und ist das die Wahl deiner Lehrerin?„ Nein, vom Kultusministerium in Stuttgart!“
Als ich drei Jahre später Kassandra in Mogadischu las, musste ich an diesen amüsanten und aufschlussreichen Dialog denken, denn beim Lesen des Buches wurde mir klar, wie recht das Kultusministerium hatte.
Kassandra in Mogadischu ist ein Memoir in Form eines Interviews mit der hooyo (Mutter) und eines Briefes an die in Kanada lebende awowe (Enkelin) der Autorin, das in zwei Sprachen (Italienisch und Somali) geschrieben ist und mehrere Jahrzehnte auf zwei Kontinenten umspannt. In diesem eindringlichen und bewegenden Buch beschreibt Scego die Geschichte Somalias und den Exodus der Somalier anhand der Ereignisse in ihrer Familie und der intimen und körperlichen Reaktionen der Menschen, angefangen bei ihren eigenen. Mit großem Mut erzählt die Autorin von ihrer Bulimie als Teenager, allein mit ihrem Vater in Rom Anfang der 1990er Jahre, während ihre Mutter in Mogadischu war, wo der Krieg tobte, oder von ihrer Beziehung zum Grünen Star in ihren Augen. Und sie erzählt davon, wie Wörter (oder deren Fehlen in anderen Sprachen) unsere Denkweise und unsere Lebensweise beeinflussen. Das Wort jirro zum Beispiel kommt 135 Mal im Buch vor (ich habe es in einem Artikel gelesen) und bedeutet genau genommen Krankheit, aber auch Schmerz, Wunden, gebrochenes Herz.
Dennoch hinterlässt das Buch, das hart und bisweilen brutal ist, eine Spur der Hoffnung. In der abschließenden Danksagung erinnert Scego daran, dass „auch wenn es seltener erwähnt wird als jirro, das Schlüsselwort dieses Buches cura (Fürsorge) ist; Fürsorge, deren grundlegendes Werkzeug die italienische Sprache ist, die „sie aufgenommen hat, sie wachsen ließ und ihrer Verzweiflung und ihren Freuden eine Stimme gab".
Es ist ein Buch, das in Italien gefehlt hat – jenem Italien, das seinen eigenen Kolonialismus und die Schrecken, die den beherrschten Völkern zugefügt wurden, immer ignoriert hat – und es ist gut, dass es auch auf Deutsch erschienen ist.
Andrea Burzacchini