Maria Stepanova
Der Absprung
Im Sommer 2023 lebt die Schriftstellerin M. schon einige Monate im europäischen Exil. Das Land, in dem sie geboren wurde, führt derzeit – angeleitet vom sogenannten Untier – Krieg gegen ein benachbartes Land. M. reist zu einem Literaturfestival, auf das sie für eine Lesung eingeladen ist. Ausfallende Züge, ein verlorenes Ladekabel und ein Missverständnis mit einem freundlichen Taxifahrer führen dazu, dass M. in der Grenzstadt F. strandet und plötzlich zum ersten Mal seit langem an einem Ort ist, an dem niemand sie kennt.
Die Situation ist verheißungsvoll; seit Beginn des Kriegs scheint M. lediglich zu funktionieren, kann ihre Arbeit kaum mehr ausführen, jegliche Form des Ausdrucks (ob nun der Versuch zu schreiben oder auch nur ein alltägliches Gespräch zu führen) ist, wie die Muttersprache selbst, kontaminiert und konfrontiert sie sofort mit ihrer Identität, der damit verbundenen Verantwortung und empfundenen Mitschuld. In der Stadt F. nun kann sie schlendern, das leere Handy im Hotelzimmer lassen; es locken ein Escape Room, ein attraktiver Mann, eine noch attraktivere Hotelterrasse und ein Wanderzirkus, dem ausgerechnet eine Person fehlt, die sich während einer Zaubernummer auf der Bühne entzwei sägen lässt. M. erkennt die Gelegenheit, ihre bisherige Identität abzulegen und eine Andere zu werden.
Das Untier mit Putin gleichzusetzen, wäre zu einfach und außerdem ein zu großes Kompliment, wie die Autorin selbst in einem Interview mit der FAZ sagt. Die russische Schriftstellerin Maria Stepanova setzt sich in ihrem Roman mit der Frage auseinander, wie viel von dem Untier in der Gesellschaft und auch in ihr selbst steckt. Dies macht sie in einer unglaublich dichten, assoziationsreichen und poetischen Sprache voll literarischer Verweise, kleiner Geschichten und genauer Beobachtungen, die oft auch überaus humorvoll sind. Damit gelingt ihr nicht nur ein sehr kraftvoller und gleichzeitig feiner Roman, sondern auch der Versuch, trotz allem weiter zu schreiben.
Joke Colmsee
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja
Surhkamp Verlag , gebunden , 141 Seiten
23.- €
22.09.2024
978-3-518-43197-9
Der Absprung
Im Sommer 2023 lebt die Schriftstellerin M. schon einige Monate im europäischen Exil. Das Land, in dem sie geboren wurde, führt derzeit – angeleitet vom sogenannten Untier – Krieg gegen ein benachbartes Land. M. reist zu einem Literaturfestival, auf das sie für eine Lesung eingeladen ist. Ausfallende Züge, ein verlorenes Ladekabel und ein Missverständnis mit einem freundlichen Taxifahrer führen dazu, dass M. in der Grenzstadt F. strandet und plötzlich zum ersten Mal seit langem an einem Ort ist, an dem niemand sie kennt.
Die Situation ist verheißungsvoll; seit Beginn des Kriegs scheint M. lediglich zu funktionieren, kann ihre Arbeit kaum mehr ausführen, jegliche Form des Ausdrucks (ob nun der Versuch zu schreiben oder auch nur ein alltägliches Gespräch zu führen) ist, wie die Muttersprache selbst, kontaminiert und konfrontiert sie sofort mit ihrer Identität, der damit verbundenen Verantwortung und empfundenen Mitschuld. In der Stadt F. nun kann sie schlendern, das leere Handy im Hotelzimmer lassen; es locken ein Escape Room, ein attraktiver Mann, eine noch attraktivere Hotelterrasse und ein Wanderzirkus, dem ausgerechnet eine Person fehlt, die sich während einer Zaubernummer auf der Bühne entzwei sägen lässt. M. erkennt die Gelegenheit, ihre bisherige Identität abzulegen und eine Andere zu werden.
Das Untier mit Putin gleichzusetzen, wäre zu einfach und außerdem ein zu großes Kompliment, wie die Autorin selbst in einem Interview mit der FAZ sagt. Die russische Schriftstellerin Maria Stepanova setzt sich in ihrem Roman mit der Frage auseinander, wie viel von dem Untier in der Gesellschaft und auch in ihr selbst steckt. Dies macht sie in einer unglaublich dichten, assoziationsreichen und poetischen Sprache voll literarischer Verweise, kleiner Geschichten und genauer Beobachtungen, die oft auch überaus humorvoll sind. Damit gelingt ihr nicht nur ein sehr kraftvoller und gleichzeitig feiner Roman, sondern auch der Versuch, trotz allem weiter zu schreiben.
Joke Colmsee