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josfritz Buchhandlung Freiburg
josfritz Buchhandlung Freiburg

Christien Carl / Ismene Ditrich / Christa Koentges / Swantje Matthies

cover

Beltz , kartoniert , 240 Seiten

 20.- €

 978-3-407-86704-9

 17.08.2022

Die Welt der Frauen und Mädchen mit AD(H)S

Warum sie so besonders sind und was sie stark macht

Das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz AD(H)S, begegnet uns in den Medien immer öfter. Wer sich hierzu unaufgeregt und nach wissenschaftlichen Standards aber gleichzeitig gut lesbar informieren möchte, die*der ist bei dem 2022 im Beltz Verlag erschienen Band „Die Welt der Frauen und Mädchen mit AD(H)S." richtig. Die vier Autorinnen des Buches, Christine Carl, Ismene Ditrich, Christa Koentges, Swantje Matthies bilden die Freiburger Arbeitsgruppe AD(H)S und haben dieses – eigentlich längst überfällige – Werk gemeinsam verfasst.

Der positiv klingende Titel des Buches wird durch die ersten sechs Kapitel konterkariert. Ganz pädagogisch wird nach dem defizitorientierten Blick jedoch die Perspektive gewechselt und die Ressourcen von Frauen und Mädchen mit AD(H)S herausgestellt. Leser*innen werden außerdem mit Übungen, die die Gruppe der Autorinnen, bestehend aus zwei Ärztinnen und zwei Psychotherapeutinnen, von AD(H)S Betroffenen empfiehlt, und einer Vorstellung möglicher Behandlungsformen versorgt. Primär ist das Buch klar an Mädchen und Frauen mit AD(H)S gerichtet, es eignet sich jedoch generell als niederschwellige Psychoedukation. Die wertschätzende Einstellung der Autorinnen gegenüber Menschen mit AD(H)S und das Ernstnehmen der Symptomatik zeigt sich nicht nur im Inhalt, sondern auch in Details, wie den rosafarbenen Kästen, die die Aufmerksamkeit beim Lesen zurückholen, den veranschaulichenden Darstellungen und dem ästhetisch ansprechenden Design.
Warum ein Buch speziell zu AD(H)S bei gebärfähigen Personen, die als Mädchen erzogen werden, relevant ist, wird beim Lesen schnell klar. Die aktuellen Kriterien zur Diagnostik von AD(H)S sind auf das weit verbreitete Narrativ des hyperaktiven, extrovertierten kleinen Jungen zugeschnitten, ein Grund dafür, dass AD(H)S bei Mädchen und Frauen so oft unentdeckt bleibt. Geschlechtsspezifische Normvorstellungen und Erziehung führen außerdem dazu, dass Mädchen schon früh Expert*innen im sogenannten masking werden, also im Verstecken ihres Selbst, ihrer Bedürfnisse, die als nicht angemessen bewertet werden. Kurz gesagt: Sie passen sich an. Das hat jedoch Folgen, denn das ‚sich normal verhalten' raubt den Mädchen und später den Frauen einen Großteil ihrer Energie. Zudem manifestiert sich ein negatives Selbstbild, da die Kinder natürlich bemerken, dass sie irgendwie anders sind und Dinge, die für andere so leicht scheinen, nicht hinbekommen. Undiagnostiziert suchen sie die Fehler bei sich und haben oft für den Rest ihres Lebens mit einem geringen Selbstwertgefühl zu kämpfen.

Dass AD(H)S bei Mädchen öfter übersehen wird liegt auch teilweise daran, dass das Symptom Hyperaktivität eines der sichtbarsten Symptome der AD(H)S ist. Bei Mädchen und Frauen und generell bei Erwachsenen ist diese Hyperaktivität jedoch oft innerlich und damit nach außen hin unsichtbar. Die dauerhafte Ruhelosigkeit kann sich beispielsweise als Gedankenkarusell oder einem unangenehmen Kribbeln im Bauch zeigen. Oft führt dies zu Versuchen, durch Alkohol oder andere Drogen ‚runterzukommen'. Mädchen und Frauen mit AD(H)S werden dann oft erst durch Folgestörungen wie Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen auffällig und holen ärztlichen oder therapeutischen Rat ein.

Viele Frauen mit AD(H)S teilen die Erfahrung, in der Schule als aufmüpfig, egoistisch, zu laut und faul bewertet zu werden. Während Jungs eben ‚einfach Jungs sind', werden betroffene Mädchen besonders stark gemaßregelt und negativ angesehen. Erst wenn Betroffene wissen, dass diese Verhaltensweisen auf ihrem AD(H)S beruhen, können Schuld- und Schamgefühle, die aufgrund des Verhaltens angehäuft wurden, bearbeitet und funktionalere Stimulationsstrategien gefunden werden.

Das Thema AD(H)S und Muttersein hat einen besonderen Platz im Buch. Logischerweise fällt es Personen, die oft mit sich selbst überfordert sind, besonders schwer, das Leben von weiteren kleinen Wesen mit zu managen. Hinzu kommt, dass Menschen mit AD(H)S diese oft an ihre Kinder vererben, womit dann Impulsivität, Chaos und emotionale Achterbahnen auf Impulsivität, Chaos und emotionale Achterbahnen treffen. Auch besteht für gebärende Menschen mit AD(H)S nicht nur für psychische Folgen wie postpartale Depressionen, sondern auch für körperliche Aspekte wie beispielsweise Präeklampsien oder Frühgeburten ein erhöhtes Risiko. Mütter mit AD(H)S hegen oft starke Selbstzweifel, da sie beispielsweise repetitives Verhalten, wie es beim Spielen mit Kleinkindern gefordert ist, unglaublich langweilt. Mutter sein als anstrengend und langweilig zu empfinden ist noch immer ein Tabuthema. Die Autorinnen machen deutlich, dass gerade auch für Mütter mit AD(H)S Möglichkeiten, sich über diese Gefühle austauschen zu können, wichtig wären.

Da Östrogen den Dopaminhaushalt beeinflusst, was auch zu den extremen Schwankungen während Schwangerschaft und Stillzeit und der zweiten Zyklushälfte führt, verändert sich AD(H)S auch mit den Wechseljahren. Frauen mit AD(H)S berichten vermehrt über stärkere Wechseljahresbeschwerden, und das Risiko für Depressionen steigt ab Einsetzen der Menopause noch einmal an. Manche AD(H)S-Symptome wie die Impulsivität nehmen im Laufe des Lebens meistens ab, gerade die innerliche Unruhe bleibt den meisten jedoch erhalten und kann im Alter durch eingeschränkte Bewegungsmöglichkeiten noch verstärkt werden.
Positiv stellen die Autorinnen beispielsweise den sogenannten Hyperfokus, Spontaneität und eine große Begeisterungsfähigkeit bei Menschen mit AD(H)S heraus und schaffen somit ein weder toxisch positives noch hoffnungsloses Bild des Lebens als Frau mit AD(H)S in dieser Gesellschaft.
5 % aller Kinder sind aktuell mit AD(H)S diagnostiziert, ein deutliches Zeichen, dass es nun wirklich an der Zeit ist, dass Pädagog*innen, Ärzt*innen, Eltern und Psychotherapeut*innen sich aktiv informieren. Für diesen Einstieg ist dieses Buch hervorragend geeignet. Und für alle, die immer noch von Sensibelchen oder ‚Modediagnose' sprechen, haben die Autor*innen eine klare Antwort: „AD(H)S ist eine genetisch festgelegte neurobiologische Erkrankung".

Louise Link