Ulrike Edschmid
Die letzte Patientin
„Sie liest die ganze Zeit. Das, was sie liest ist so wirklich wie das, was sie sieht.“ Wenn wir diesen wunderbaren Satz über die kleine Frau, die gerne Schuhe mit hohen Absätzen trägt, lesen, wissen wir schon, dass sie mit der Erzählerin 1973 in Frankfurt in einer linksradikalen WG gewohnt hat. Wegen eines spanischen Anarchisten zieht sie nach Barcelona. Als ihr Barcelona, „nach all den gescheiterten Affären, für die sie das Wort Beziehung gebraucht“, zu eng wird, macht sie eine mehrjährige Reise durch Lateinamerika. Sie trifft viele Männer. „Und jedes Mal geht eine Heimat verloren, die sie nie hatte.“ Sie ist Anfang dreißig, als sie sie in einer Buchhandlung in Mexiko City zu Erich Fromms „Kunst des Liebens" greift und beschließt, ihr Leben zu ändern. Wieder in Barcelona studiert sie Psychologie. Der Krebs kommt zum ersten Mal. Sie erbt Geld, kauft sich ein Reihenhaus und wird Psychotherapeutin. Mit dem Alleinleben hat sie sich arrangiert.
Dann hat sie eine junge Frau als Patientin. N. (N. wie niemand). Diese Patientin kommt mehrere Jahre einmal die Woche, spricht aber nicht und ist unberührbar. „Sie“ will die Behandlung wegen Erfolglosigkeit einstellen. Aber N. kommt immer wieder und bezahlt die nächste Stunde im Voraus. Nach Jahren öffnet sie sich langsam, und wir begreifen, dass sie ein Opfer von Missbrauch durch den Vater und professionelle Mädchenhändler ist. Dann erfahren wir, dass das Grauen nicht vorbei ist. Aber N. kann sich aus der Gefangenschaft der Mädchenhändler befreien. Sie flieht zu ihr. Der Krebs war zurückgekommen. Jetzt ist es N., die für sie da ist. „Sie ölt die Türangeln, damit sie ohne ihre Therapeutin, die jetzt ihre Patientin ist, zu wecken, die Tür öffnen und nach ihr schauen kann.“
Gleich auf Seite 9 in diesem Buch lesen wir: Es „umgab sie ein lasziver Lebensüberdruss, wie man ihn aus Filmen der Nouvelle Vague kennt.“ Ich habe diesen Satz allerdings eher so interpretiert, dass uns die Autorin in eine Nouvelle Vague Atmosphäre versetzen will. In das geschilderte Leid und das Verbrechen an der jungen Frau sollen wir nicht sensationsheischend eintreten, sondern uns ihm mit abgeklärten Einfühlungsvermögen (falls es so etwas gibt) nähern. Ich war jedenfalls nach der Lektüre dieses Buches wie schon bei früheren Büchern von Ulrike Edschmid Außer Atem.
Frank Zamboni
Suhrkamp Verlag , gebunden , 111 Seiten
23.- €
978-3-518-43183-2
09.09.2024
Die letzte Patientin
„Sie liest die ganze Zeit. Das, was sie liest ist so wirklich wie das, was sie sieht.“ Wenn wir diesen wunderbaren Satz über die kleine Frau, die gerne Schuhe mit hohen Absätzen trägt, lesen, wissen wir schon, dass sie mit der Erzählerin 1973 in Frankfurt in einer linksradikalen WG gewohnt hat. Wegen eines spanischen Anarchisten zieht sie nach Barcelona. Als ihr Barcelona, „nach all den gescheiterten Affären, für die sie das Wort Beziehung gebraucht“, zu eng wird, macht sie eine mehrjährige Reise durch Lateinamerika. Sie trifft viele Männer. „Und jedes Mal geht eine Heimat verloren, die sie nie hatte.“ Sie ist Anfang dreißig, als sie sie in einer Buchhandlung in Mexiko City zu Erich Fromms „Kunst des Liebens" greift und beschließt, ihr Leben zu ändern. Wieder in Barcelona studiert sie Psychologie. Der Krebs kommt zum ersten Mal. Sie erbt Geld, kauft sich ein Reihenhaus und wird Psychotherapeutin. Mit dem Alleinleben hat sie sich arrangiert.
Dann hat sie eine junge Frau als Patientin. N. (N. wie niemand). Diese Patientin kommt mehrere Jahre einmal die Woche, spricht aber nicht und ist unberührbar. „Sie“ will die Behandlung wegen Erfolglosigkeit einstellen. Aber N. kommt immer wieder und bezahlt die nächste Stunde im Voraus. Nach Jahren öffnet sie sich langsam, und wir begreifen, dass sie ein Opfer von Missbrauch durch den Vater und professionelle Mädchenhändler ist. Dann erfahren wir, dass das Grauen nicht vorbei ist. Aber N. kann sich aus der Gefangenschaft der Mädchenhändler befreien. Sie flieht zu ihr. Der Krebs war zurückgekommen. Jetzt ist es N., die für sie da ist. „Sie ölt die Türangeln, damit sie ohne ihre Therapeutin, die jetzt ihre Patientin ist, zu wecken, die Tür öffnen und nach ihr schauen kann.“
Gleich auf Seite 9 in diesem Buch lesen wir: Es „umgab sie ein lasziver Lebensüberdruss, wie man ihn aus Filmen der Nouvelle Vague kennt.“ Ich habe diesen Satz allerdings eher so interpretiert, dass uns die Autorin in eine Nouvelle Vague Atmosphäre versetzen will. In das geschilderte Leid und das Verbrechen an der jungen Frau sollen wir nicht sensationsheischend eintreten, sondern uns ihm mit abgeklärten Einfühlungsvermögen (falls es so etwas gibt) nähern. Ich war jedenfalls nach der Lektüre dieses Buches wie schon bei früheren Büchern von Ulrike Edschmid Außer Atem.
Frank Zamboni