Mathias Enard
Straße der Diebe
Zwischen zwei Welten liegen, in der Wirklichkeit wie im Roman, an der schmalsten Stelle der Meerenge nur 14 Kilometer Wasserfläche – zugegeben: tiefe, stark strömende, wild-windig wogende zwar. Aber diese 14 bis 44 Kilometer See zwischen Landmassen, die Straße von Gibraltar zwischen den in der Antike als das Weltende geltenden „Säulen des Herakles“ – sie ziehen in Mathias Enards Straße der Diebe alle Aufmerksamkeit, alle psychischen Energien, auch: alles magische Denken auf sich.
Enards Erzähler heißt Lakhdar, ist 20 Jahre jung und ein Picaro von äußerst eigenwilligem Zuschnitt: Eigentlich hätte der aus dem Hinterland in die mythische Hafenstadt Tanger – multikulturelles Sehnsuchtsziel ganzer Generationen von westlichen Schriftsteller:innen – gekommene Lakhdar fast sein ganzes Leben noch vor sich. Doch nach einem ersten Liebesdebakel, das mit seiner beinahe schon biblisch anmutenden Familienverstoßung endet, schaut dieser desillusionierte Flaneur längst mit einiger Resignation auf die Meerenge vor der Haustür. Dahinter liegen Spanien, Frankreich – Europa: lockend, unerreichbar.
Lakhdar jobbt ohne große Begeisterung in einer zwielichtigen islamischen Buchhandlung, Treffpunkt religiöser Fanatiker unter der Fuchtel eines radikalen Predigers. Er selbst liest jedoch lieber staubige Paperbacks klassischer französischer Krimis und schwärmt für die schwermütige spanische Studentin Judit, die aus dem sagenumwobenen Barcelona nach Tanger gereist ist.
Lakhdars wachsende Zweifel an den Vorhaben des Predigers, der den Jugendfreund Bassam völlig in seinen Bann gezogen hat, und Judits Abreise setzen eine Zufallsodyssee über See in Gang – als linkischer Schiffsjunge, als Gehilfe eines kruden Bestatters ertrunkener Geflüchteter, als Privatlehrer für arabische Literatur. Er wird es bis nach Barcelona schaffen – genauer gesagt: in die „Carrer Robadors“, wo Drogensüchtige, Prostituierte, Kleinkriminelle und Menschen ohne Papiere wie Lakhdar leben. Doch seine Vergangenheit verfolgt ihn bis auf die andere Seite Gibraltar.
Mathias Enard gelingt eine schwer vergessliche Reisegeschichte, voll von zeitlosen Einsichten in die condición humana.
René Freudenthal
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Hanser Verlag , gebunden , 352 Seiten
978-3-446-24365-1
29.07.2013
Straße der Diebe
Zwischen zwei Welten liegen, in der Wirklichkeit wie im Roman, an der schmalsten Stelle der Meerenge nur 14 Kilometer Wasserfläche – zugegeben: tiefe, stark strömende, wild-windig wogende zwar. Aber diese 14 bis 44 Kilometer See zwischen Landmassen, die Straße von Gibraltar zwischen den in der Antike als das Weltende geltenden „Säulen des Herakles“ – sie ziehen in Mathias Enards Straße der Diebe alle Aufmerksamkeit, alle psychischen Energien, auch: alles magische Denken auf sich.
Enards Erzähler heißt Lakhdar, ist 20 Jahre jung und ein Picaro von äußerst eigenwilligem Zuschnitt: Eigentlich hätte der aus dem Hinterland in die mythische Hafenstadt Tanger – multikulturelles Sehnsuchtsziel ganzer Generationen von westlichen Schriftsteller:innen – gekommene Lakhdar fast sein ganzes Leben noch vor sich. Doch nach einem ersten Liebesdebakel, das mit seiner beinahe schon biblisch anmutenden Familienverstoßung endet, schaut dieser desillusionierte Flaneur längst mit einiger Resignation auf die Meerenge vor der Haustür. Dahinter liegen Spanien, Frankreich – Europa: lockend, unerreichbar.
Lakhdar jobbt ohne große Begeisterung in einer zwielichtigen islamischen Buchhandlung, Treffpunkt religiöser Fanatiker unter der Fuchtel eines radikalen Predigers. Er selbst liest jedoch lieber staubige Paperbacks klassischer französischer Krimis und schwärmt für die schwermütige spanische Studentin Judit, die aus dem sagenumwobenen Barcelona nach Tanger gereist ist.
Lakhdars wachsende Zweifel an den Vorhaben des Predigers, der den Jugendfreund Bassam völlig in seinen Bann gezogen hat, und Judits Abreise setzen eine Zufallsodyssee über See in Gang – als linkischer Schiffsjunge, als Gehilfe eines kruden Bestatters ertrunkener Geflüchteter, als Privatlehrer für arabische Literatur. Er wird es bis nach Barcelona schaffen – genauer gesagt: in die „Carrer Robadors“, wo Drogensüchtige, Prostituierte, Kleinkriminelle und Menschen ohne Papiere wie Lakhdar leben. Doch seine Vergangenheit verfolgt ihn bis auf die andere Seite Gibraltar.
Mathias Enard gelingt eine schwer vergessliche Reisegeschichte, voll von zeitlosen Einsichten in die condición humana.
René Freudenthal