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josfritz Buchhandlung Freiburg
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Bettina Wilpert

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Verbrecher Verlag , gebunden , 266 Seiten

 25.- €

 978-3-9573-2513-6

 2022

Herumtreiberinnen

Es ist der Sommer 1983 und Protagonistin des Romans ist die junge Manja. Ihr Schulaufsatz über einen fiktiven Besuch im Westen wird von der Lehrerin gerügt und als feindlich interpretiert. Die anschließende Konfrontation mit ihren Eltern ist ernüchternd. Im Streit geht sie mit der Mutter auseinander und beginnt mit ihrer Jugendfreundin Maxie die eigenen Freiheitsgrade selbstbestimmt zu erkunden. Sie schwänzt zum ersten Mal den Unterricht, unternimmt Streifzüge durch Schrebergärten und verliebt sich. Doch der jugendlichen Leichtigkeit und unverfänglichen Herumtreiberei wird heftig Einhalt geboten. Unter dem Vorwand, sie habe eine Geschlechtskrankheit, wird sie von der Volkspolizei aufgeschnappt und hinter den verschlossenen Türen einer Venerologischen Station in der Leipziger Lerchenstraße, der sogenannten „Tripperburg“, gemaßregelt. Heute ist bekannt, dass tausende Mädchen und Frauen auf diesen Stationen untergebracht wurden, wenn sie nicht in das Erwartungsbild der DDR passten. Dort erfuhren sie Demütigung und Gewalt. Bettina Wilpert gibt tiefe Einblicke in ihre Schicksale. Gleichzeitig erzählt sie die Geschichte des Gebäudes in der Lerchenstraße durch Zeitsprünge in die Vergangenheit und Gegenwart.

Parallel zu den tagebuchartigen Einträgen von Manja aus der Tripperburg, werden uns auch die Geschichten von Lilo und Robin erzählt. Lilo ist Tochter eines kommunistischen Widerstandskämpfers im Naziregime und wird 1944 am gleichen Ort inhaftiert. Robin arbeitet 2016 in der Lerchenstraße als Sozialarbeiterin, während die Gebäude als Zwischenunterkünfte für Menschen auf der Flucht dienen. Drei junge Frauen, deren Wege dasselbe Gebäude unter sehr unterschiedlichen Vorzeichen kreuzen und doch eint sie die Konfrontation mit systematischer Gewalt und der Wille sich dieser zu wiedersetzen. Immer wieder tauchen verbindende Motive zwischen den drei Erzählsträngen auf, wie der Anblick des Wärterhäuschens, die Statur über dem Eingangsportal und der Geruch von Birnen. Ich pendelte beim Lesen zwischen einer Faszination für diese Knotenpunkte, welche die drei Frauen miteinander verbinden, und gleichzeitigem Entsetzen über die Kontinuität von Repression, die sich hier in Form eines Gebäudes manifestiert. Durch die kurzen Kapitel liest sich der zweite Roman von Bettina Wilperts fast schon zu schwungvoll und zügig für das schwere Material, dass die Autorin aus den Archiven und den Ecken der Lerchenstraße an die Oberfläche gekehrt hat. Dennoch war es ein Buch, das mich wochenlang in meinem Rucksack und in Gedanken begleitete.

Franziska Parton