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josfritz Buchhandlung Freiburg
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Gabriele Tergit

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Schöffling Verlag , gebunden , 904 Seiten

 28.- €

 978-3-89561-493-4

 2019

Effingers

Wer Familienromane schreibt, vergewissert sich seiner selbst im Blick auf die Geschichte seiner Herkunft und seiner Lebenswelt. Das gilt auch für die Leser und Leserinnen dieser oft dickleibigen Familiengeschichten und macht ihren Erfolg aus – spätestens seit den Buddenbrooks des Nobelpreisträgers Thomas Mann. 
Dank der Initiative des Schöffling Verlags, erste Adresse für die Wiederentdeckung zu Unrecht vergessener Schriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts wie Ulrich Becher, Martin Kessel und Paul Kornfeld, kommt jetzt eine Neuausgabe der Effingers zu uns, Gabriele Tergits „geradezu exemplarischer Familienroman, der freilich immer mehr zum politischen Zeitroman wird“, wie Erhard Schütz am 23. Februar in der Literaturbeilage der WELT schrieb.

Die Neuausgabe des Werkes von Gabriele Tergit ist eine großartige Gelegenheit, dieser Schriftstellerin neu oder wieder zu begegnen, die im „Babylon Berlin“ der 1920er Jahre am Kriminalgericht Moabit Deutschlands erste Gerichtsreporterin war. 
Geboren 1894 als Elise Hirschmann in Berlin, schrieb sie unter anderem für das „Berliner Tagblatt“, unter Theodor Wolff damals die Zeitung des liberalen Berliner Bürgertums. 
1931 erschien ihr erster Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm (2016 neu herausgegeben im Schöffling Verlag), die anhand der Erzählung vom Volkssänger Georg Käsebier erzählte Geschichte der Goldenen Zwanzigerjahre Berlins und des folgenden großen Crash. Der „Käsebier“ liest sich heute wie ein Gegenwartsroman.

Das gilt auch für Gabriele Tergits zweiten großen Roman Effingers.
 Unmittelbar nach dem „Käsebier“ hatte sie – angeregt durch ihren Verleger Ernst Rowohlt –begonnen, eine große jüdische Familiengeschichte zu schreiben. Wie Thomas Mann mit den „Buddenbrooks“ setzte die Autorin damit ihrer eigenen – jüdischen – Familie ein literarisches Denkmal. Auch bei der Lektüre ist das große Lübecker Vorbild vor allem in den auftretenden Charakteren unverkennbar.
 Aber: Tergits Familienroman ist in seiner pointierten Lakonie, in seinem treffenden Witz und seiner in 151 oft kurzen Kapiteln und einem Epilog wie die Abfolge einer Netflix Serie näher bei unseren heutigen Lese- und Sehgewohnheiten. Und er ist aktuell, denn er erzählt, wie Familiengeschichte zur Zeitgeschichte wird, wie unsere nahe und ferne Umwelt unsere ganz eigene Lebenswelt bestimmt.
 Anders als die „Buddenbrooks“ erleben die „Effingers“ ihre Familiengeschichte nicht als Schicksal eines krankheitsähnlichen kulturellen und wirtschaftlichen Niedergangs sondern als Folge von Schuld und Niedergang der sie umgebenden Gesellschaft: Aus Mitgliedern der Familie Effinger – gut situierten assimilierten jüdischen Bürgern der Jahrhundertwende – werden von den Nationalsozialisten verfolgte Juden.

Das ist berührend und mitreißend erzählt, im Roman gerahmt von zwei Briefen.
 Alles beginnt mit einem Brief, den der 17-jährige Paul Effinger vor seiner Reise nach Berlin an seine Eltern schreibt. Als fromme jüdische Uhrmacherfamilie leben sie im badischen Kragsheim. Durch Heirat ihrer Söhne wird ihre Lebenswelt verbunden mit den Berliner jüdischen Bankiersfamilien Goldschmidt und Oppner. Zwischen der jüdischen Lebenswelt in der Provinz Kragsheim und dem assimilierten kaisertreuen jüdischen Bürgertum in Berlin liegen scheinbar Welten.
 Im Lauf des spannend erzählten Romans wird aber immer deutlicher: Gemeinsam ist ihnen ihr Status als Juden, als Außenseiter in Deutschland. Von der Zeit des Bürgertums im Kaiserreich und in der Weimarer Republik führt die Familiengeschichte der „Effingers“ in die Zeit der Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten. Und so steht am Ende des fast tausendseitigen Romans noch einmal ein Brief des Paul Effinger. Als über 80-jähriger schreibt er an seine Kinder und Enkel, kurz vor seiner Deportation: »Ich habe an das Gute im Menschen geglaubt. Das war der tiefste Irrtum meines verfehlten Lebens.« Das ist die bittere Erkenntnis eines Verfolgten im Deutschland des 20. Jahrhunderts.
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Und doch lässt Gabriele Tergit ihren Roman in einem Epilog 1948 versöhnlich enden, nach ihrer Art ganz lakonisch: »Was für ein Frühlingstag, dieser Sonnabend im Mai des Jahres 1948! Was für eine Süße nachmittags gegen sechs Uhr!«

Über siebzig Jahre später im Frühling des Jahres 2019 sind Tergits Effingers mein Lieblingsbuch in diesem Bücherfrühjahr. Schön, dass es diesen Roman, der lange vergriffen war, in einer Neuausgabe wieder zu lesen gibt und dass er jetzt endlich einem breiten Publikum vorgestellt wird.

Ein großer Erfolg ist dieser Neuausgabe zu wünschen. Gabriele Tergit hätte sich darüber gefreut,
 denn dieser Roman hat sie lange begleitet. Er ist mit ihr, die als Jüdin 1933 mit ihrem Mann Heinz Reifenberg Berlin verlassen musste, ins Exil nach Prag, Palästina und London gegangen. Erst 1951 ist das Buch erstmals in Deutschland erschienen, trotz guter Kritiken ein kommerzieller Misserfolg im Nachkriegsdeutschland des Wirtschaftswunders und der kollektiven Verdrängung.
Verdienstvoll, dass die Herausgeberin Nicole Henneberg in ihrem Nachwort auch diese spannende Rezeptionsgeschichte der Effingers erzählt.

Etwas Seltenes überhaupt. Was ein zeitgenössischer Journalistenkollege über Gabriele Tergit sagte, das gilt auch und ganz besonders für ihre Effingers, den seltenen Fall eines überhaupt ganz einmaligen Romans!

Ursula Hellerich Pathologin und interessiert an jüdischer Geschichte und Kultur, sowie leidenschaftliche Leserin dicker Romane, mit denen mich das Team von Jos Fritz, meiner liebsten Buchhandlung auf der Welt, immer so kompetent versorgt

Zum Schluss noch ein regionaler Veranstaltungs-Tipp zur Begegnung u.a. mit den "Effingers":

Jüdisches Lehrhaus Emmendingen (Gemeinschaftsprojekt des Vereins für jüdische Geschichte und Kultur Emmendingen e.V. und der jüdischen Gemeinde Emmendingen K.d.ö.R.)

Vortrag von Ursula Hellerich (Freiburg)

"Geschichten von der Mischpoche - Jüdische Familienromane im 20./21. Jahrhundert"

Jüdisches Museum (Mikwe), Schlossplatz 7, Emmendingen

Sonntag, 23. Juni 2019, 17.00 Uhr

Eintritt frei, Spenden erbeten