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josfritz Buchhandlung Freiburg
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Edgar Selge

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Rowohlt Verlag , gebunden , 304 Seiten

 24.- €

 978-3-498-00122-3

 19.10.2021

Hast du uns endlich gefunden

Der Vater ist Direktor einer Jugendvollzugsanstalt. Um den Delinquenten ein wenig Kultur nahezubringen, veranstaltet der begabte Pianist regelmäßig Hauskonzerte. Nachmittags kommen »seine Jungs«, abends dann die bürgerlichen Freunde. Die Schnittchen für danach richtet die Mutter, eine gebildete, sensible Frau, ausgezehrt von der Sisyphusarbeit der Haushaltsführung. Alle fünf Söhne sind hochmusikalisch, zwei von ihnen sterben, einer beim Spielen mit einer Handgranate. Da liegt Edgar, die Hauptfigur des Debüts des Schauspielers Edgar Selge, noch im Kinderwagen.

Die autobiografisch geprägte Familiengeschichte, Selge hat sie als fiktionalisierte Erinnerung beschrieben, spielt im ostwestfälischen Herford um das Jahr 1960. Erzählt wird aus der Perspektive des zwölfjährigen Edgar, einem aufgeweckten, neugierigen Jungen mit einem untrüglichen Gespür für alle wichtigen Themen in seinem Umfeld. Zum Beispiel den vergangenen Krieg, über den keiner richtig spricht und der doch präsent ist. Die Eltern, überzeugte Nazis, können von Vaterland und Volksgemeinschaft noch nicht ganz lassen, auch wenn sie die neue Demokratie nicht infrage stellen. Von den älteren Brüdern werden sie gnadenlos mit ihrer Schuld und ihrem noch virulenten Antisemitismus konfrontiert. Das beeindruckt Edgar. Überhaupt sind die großen Brüder mit ihrem Wissen für ihn das Tor zur Welt.

Auch im Kino findet Edgar Antworten auf seine drängenden Fragen. Um spannende Filme zu sehen, scheut er weder Lügen noch Diebstähle. Das ist bemerkenswert, denn Verstöße dieser Art bestraft der Vater so hart mit dem Rohrstock, dass es der Junge vor Erschöpfung manchmal kaum mehr in sein Zimmer schafft. Aber er steht immer wieder auf und wendet sich neugierig dem zu, was um ihn herum geschieht. Manchmal ist das auch urkomisch, etwa wenn die Mutter beim vierten Versuch die Fahrprüfung zu machen, im Handarbeitsgeschäft landet, ihrem Lieblingsgeschäft.

Edgar Selge erzählt all das mit feinem Gespür für das Denken und Empfinden des Zwölfjährigen, mit Humor und Lakonie, mit Zärtlichkeit und manchmal bestürzender Offenheit. Wie nebenbei zeichnet er ein pointiertes Porträt der jungen Bundesrepublik, die geprägt ist von der verdrängten Vergangenheit und dem Nachwirken von Autoritarismus und Brutalität des Nationalsozialismus. Ein großartiges Stück BRD Noire.

Sigrid Weber, Das lesewütige Kaffeekränzchen, Radio Dreyeckland