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josfritz Buchhandlung Freiburg
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Doris Lessing

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Aus dem Englischen von Rudolf Hermstein
Fischer Verlag , Taschenbuch , 256 Seiten

 8.95 €

 978-3-596-25202-2

 7. Auflage

Die Memoiren einer Überlebenden

Für mich passt der 1974 erschienene Roman Die Memoiren einer Überlebenden der englischen Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing überraschend gut in unsere Zeit, in der wachstums- und profitgetriebenes Wirtschaften die sozialen und ökologischen Grundlagen menschlichen Zusammenlebens zerstört. In diesem Werk schildert eine namenlose Ich-Erzählerin mittleren Alters den Zerfall einer öffentlichen Ordnung. Verwaltung und Versorgung liegen danieder, Wasser und Strom fallen immer häufiger aus. Es kommt zu Verteilungskämpfen. Gruppen junger Menschen kampieren auf den Straßen, beschaffen sich, was sie benötigen, und ziehen dann mit unbekanntem Ziel weiter. Unklar bleibt der Grund für diese Veränderung: eine ökologische oder nukleare Katastrophe?

Der Erzählerin wird bereits zu Beginn des Romans von einem fremden Mann ohne Begründung Emily, ein kleines Mädchen, in Obhut gegeben, das zunächst unter ihren Augen aufwächst. In der Pubertät sucht sie dann den Kontakt zu den Jugendlichen auf der Straße und verliebt sich in Gerald, deren Anführer.

Im Zentrum dieses Romans steht die Beobachtung sozialer Beziehungen in einer zerstörten Welt. Menschen, die es sich leisten können, verlassen das betroffene Gebiet. Andere richten sich ein, als sei nichts geschehen. Sie versuchen hartnäckig und unerschütterlich das normale Leben weiterzuführen. Auch die Ich-Erzählerin betrachtet die aufziehenden Veränderungen mit großer Gelassenheit, aber auch Hilflosigkeit. Immer wieder flüchtet sie hinter die Wand in ihrem Wohnzimmer. Sie sieht dort erdrückende Bilder von Emilys Kindheit ebenso wie ein verfallendes Haus, das surreal auf andere Lebensweisen verweist.

Über das Leben der jungen Menschen, denen sich Emily anschließt, eröffnen sich innerhalb des Chaos auch solidarische Momente: Sie leben auf der Straße in einer Art Kommune zusammen. Sie versorgen sich selbst und nutzen dazu gemeinsam die verbliebenen Güter; Eigentum hat seine Wichtigkeit verloren. Allerdings werden diese Formen eines gelungenen Miteinanders durch die neu dazukommenden sehr jungen Kinder ohne Sozialisationserfahrung wieder in Frage gestellt. Eine mögliche andere Zukunft klingt nur auf den letzten zwei Seiten an, wenn sich die Wand öffnet und eine Welt ganz anderer Ordnung möglich erscheint.

Gabriele Winker

( Solidarische Care-Ökonomie -Sommer 2021)