Lesetipp von Sotirios Kimon Mouzakis
Iida Turpeinen: Das Wesen des Lebens
Im Jahr 1741 entdeckt und beschreibt der Naturforscher Georg Wilhelm Steller während der sogenannten Großen Nordischen Expedition im nördlichen Pazifik so manches Tier und manche Pflanze neu. Darunter befindet sich auch ein majestätisch großer, mehrere Tonnen schwerer, aber an sich sehr friedlicher Meeressäuger, der später nach seinem europäischen Entdecker benannt werden wird: die Stellersche Seekuh. Doch die Begegnung mit Steller und der Forschungsgruppe wird der Seekuh zum Verhängnis, denn nur 27 Jahre nach ihrer Entdeckung durch die Europäer wird sie bereits ausgestorben, bzw. besser gesagt: ausgerottet worden sein.
Empfehlung von Jenny Warnecke
Esther Dischereit: Ein Haufen Dollarscheine
Mit dem namenlosen Erzähler*innen-Duo „Tante" und „Neffe", die in der Flughafenwartehalle kostenlose Erdnüsse und Kekse kauen, mäandert die Leserin durch die Erzähl-Splitter der jüdischen Mutter Hella und ihrer Tochter Hannelore, die versteckt in Wohnungen die Nazizeit überlebt haben. Dokumentiert in den Fragebögen des Hessischen Staatsministeriums, „Abteilung VI Wiedergutmachung". Daraus spinnen sich in fiktionaler Autobiografie abgehackte Sequenzen aus der Familiengeschichte im rabenschwarzen Keller der deutschen Geschichte.
John Burnside
So etwas wie Glück
Geschichten über die Liebe
Hält man einen kleinen Vogel in der Hand, spürt man den Herzschlag und das kaum vorhandene Gewicht dieses Geschöpfes. Es ist eine Art Erschütterung im tiefsten Sinn des Wortes, was hier passiert. Die Hand kann ...
Ursula Hellerich empfiehlt:
Sally Rooney: Intermezzo
In Intermezzo, ihrem neuen, lang erwarteten Roman nach Gespräche mit Freunden, Normale Menschen und Schöne Welt, wo bist du erzählt die junge vielgelesene irische Autorin eine alte Geschichte neu. Zwei ungleiche Brüder konkurrieren bis aufs Blut darum, gesehen und wertgeschätzt zu werden, das ist schon in der Bibel so.
Yaniv Iczkovits
Fannys Rache
Die Vergeltung der Mende Speisman durch die Hand ihrer Schwester
Jüdische Frauen brauchen für eine Trennung einen Scheidebrief. Dieser kann ihnen nur der Mann geben. Sie selbst sind also gebunden daran, dass der Mann sie freigibt. Das wird auch heute in orthodoxen Gemeinschaften ...
Lesetipp von Frank Zamboni
Ulrike Edschmid: Die letzte Patientin
»Sie liest die ganze Zeit. Das, was sie liest ist so wirklich wie das, was sie sieht.« Wenn wir diesen wunderbaren Satz über die kleine Frau, die gerne Schuhe mit hohen Absätzen trägt, lesen, wissen wir schon, dass sie mit der Erzählerin 1973 in Frankfurt in einer linksradikalen WG gewohnt hat. Wegen eines spanischen Anarchisten zieht sie nach Barcelona. Als ihr Barcelona, »nach all den gescheiterten Affären, für die sie das Wort Beziehung gebraucht«, zu eng wird, macht sie eine mehrjährige Reise durch Lateinamerika. Sie trifft viele Männer. »Und jedes Mal geht eine Heimat verloren, die sie nie hatte.« Sie ist Anfang dreißig, als sie sie in einer Buchhandlung in Mexiko City zu Erich Fromms Kunst des Liebens greift und beschließt, ihr Leben zu ändern. Wieder in Barcelona studiert sie Psychologie. Der Krebs kommt zum ersten Mal. Sie erbt Geld, kauft sich ein Reihenhaus und wird Psychotherapeutin. Mit dem Alleinleben hat sie sich arrangiert.
Empfehlung von Christoph Seidler
Joana Osman: Wo die Geister tanzen
Kann man dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen, so gibt es dafür mindestens zwei gute Gründe. Zum einen handelt es sich schlicht um einen wunderbar erzählten, sehr berührenden Familienroman. Beginnend in den 1930er Jahren rekonstruiert die als Tochter eines palästinensischen Vaters und einer deutschen Mutter in einer bayrischen Kleinstadt aufgewachsene Autorin Joana Osman die Geschichte ihrer Großeltern: Einst Kinobetreiber in Jaffa, der „kleinen Schwester von Tel Aviv“, flieht die Familie 1948 wie hunderttausende andere Palästinenser. Es folgen Jahre des Überlebenskampfes im Libanon, der Türkei, und immer wieder Krieg.
Osman zeichnet die Charaktere ihrer weitläufigen Familie dabei mit viel liebevollem Humor und Respekt, wodurch ein plastisches Bild von der kollektiven Fluchterfahrung dieser palästinensischen Generation entsteht. Ebenso von der Diversität der palästinensischen Gesellschaft, was hierzulande eine Leerstelle füllt und allein schon dadurch den ‚Abschied' von den Protagonisten am Ende des Buches entsprechend schwermacht.
Darüber hinaus bietet der Roman noch eine weitere Qualität.
Lesetipp von René Freudenthal
Mathias Enard: Straße der Diebe
Zwischen zwei Welten liegen, in der Wirklichkeit wie im Roman, an der schmalsten Stelle der Meerenge nur 14 Kilometer Wasserfläche – zugegeben: tiefe, stark strömende, wild-windig wogende zwar. Aber diese 14 bis 44 Kilometer See zwischen Landmassen, die Straße von Gibraltar zwischen den in der Antike als das Weltende geltenden „Säulen des Herakles" – sie ziehen in Mathias Enards Straße der Diebe alle Aufmerksamkeit, alle psychischen Energien, auch: alles magische Denken auf sich.
Julia Littmann empfiehlt
Stefanie Sargnagel: Iowa
Iowa. Flächenstaat im Mittleren Westen der USA. Für einen Lehrauftrag in „Creative Writing“ verschlägt es die auflagenstarke Wiener Cartoonistin, Autorin und Bloggerin Stefanie Sargnagel dort hin, ins Grinnell College, mitten im Nirgendwo von Iowa. Mit Stefanie Sargnagel reist die Berliner Musiklegende – auch sie Autorin – Christiane Rösinger. Wie kommt der autofiktionale Expeditionsbericht über die Wochen in Iowa auf die Auswahlliste zum Deutschen Buchpreis?
Lesetipp von Christine Huber
Simone Kucher: Die lichten Sommer
Anders als der Titel vermuten lässt, ist Simone Kuchers Die lichten Sommer keine sommerliche Geschichte und keine leichte Lektüre. Es ist eine Geschichte von Vertreibung, die Kucher mit Leichtigkeit erzählt. Wir begleiten die Protagonistin Liz bei ihrem Versuch, sich von ihrem Elternhaus zu emanzipieren und im Leben Fuß zu fassen. Ihr Schicksal ist verwoben mit Rückblenden in die Kindheit ihrer Mutter Nevenka im letzten Kriegsjahr in der Tschechoslowakei.
Lesetipps von Hannes Currle
Georg Zipp empfiehlt:
Alain Hollinghurst: Our Evenings
Der Roman folgt dem Leben des Erzählers Dave Win, der zurückblickt auf seine Internats- und Universitätszeit in den 1960er Jahren (einschließlich queerem Erwachen am Strand), auf seine stürmischen 1970er Jahre als Mitglied einer Schauspieltruppe, die auf die nackte Inszenierung klassischer Theaterstücke spezialisiert ist, bis in die Gegenwart, in der Dave – inmitten von Brexit, Pandemie und Ausschreitungen – ein wenig Fernsehruhm findet. Es ist ein Leben, das gekennzeichnet ist von der besonderen Beziehung zu seiner Mutter (der geheimen Hauptfigur des Romans), von Träumen, die durch alltäglichen Rassismus, die britische Klassengesellschaft und das schnöde Schicksal zu immer feinerem Staub zermahlen werden, wie auch vom unerbittlichen Voranschreiten der Zeit, das dafür sorgt, dass unsere Erinnerungen verblassen, egal wie lange wir versuchen, noch ein wenig länger an ihnen festzuhalten.
Jonas Wegerer empfiehlt:
Ken Merten
Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist
Dresden im Frühling 2017. Die linke Szene träumt von Rojava. Ein neues Katalonien im Befreiungskampf gegen Islamischen Staat, Assad und Erdogan. Ach, nur nicht zu Hause bleiben, nur mitmachen dürfen! Als Kim die ...